Russland und die Ukraine: Über Selbstbestimmung und Annexion

Den Referenden im Südosten der Ukraine folgte nun die Annexion. Das ist nicht legitim, wird aber Fakten schaffen. Eine völkerrechtliche Analyse.

Die Würfel sind gefallen. Nachdem die Referenden im Donbass die zu erwartenden Ergebnisse gebracht haben, erkannte Russlands Präsident Wladimir Putin den Beitritt von vier ukrainischen Gebieten in die Russische Föderation am gestrigen Freitag an und unterzeichnete die Kooperationsverträge.

Die Führungen der beiden "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk sowie die Verwaltungen der Gebiete Cherson und Saporischschja hatten ihre Beitrittsgesuche an die russische Regierung bereits gestellt. Die Beratungen in der russischen Duma und dem Föderationsrat werden nicht lange dauern: Kommende Woche werden die Dokumente vom russischen Verfassungsgericht geprüft und von den beiden Kammern des russischen Parlaments – der Duma und dem Föderationsrat – wohl abgesegnet.

Norman Paech ist Jurist und emeritierter deutscher Professor für Politikwissenschaft und für Öffentliches Recht an der Universität Hamburg.

Damit steht vor einem formalen Abschluss, was schon am 21. Februar 2022 mit der Anerkennung der Separatisten in Donezk und Luhansk durch ein Dekret Putins begonnen wurde: Russland hat sich faktisch den ganzen Südosten der Ukraine mit der Krim einverleibt und von dem übrigen Territorium der Ukraine getrennt.

Doch was trotz der Rückeroberungsankündigung des ukrainischen Präsidenten Wolodomyr Selenskyj politisch und militärisch nunmehr definitiv und unumkehrbar erscheint, steht juristisch auf schwachen Füßen. Wir hatten die Fragen schon einmal, als die Russische Föderation auf der Basis eines ähnlich eindeutigen Referendums die Krim aufgenommen und offensichtlich problemlos in ihren Staatsverband integriert hat.

Die UN-Generalversammlung verabschiedete jedoch seinerzeit am 27. März 2014 eine Resolution,1 in der das Referendum mit 100 gegen elf Stimmen bei 58 Enthaltungen für völkerrechtswidrig und ungültig bezeichnet wurde. Die Resolution ist zwar nicht verbindlich für die Staaten, bringt jedoch ihre Ablehnung einseitiger Sezessionen von Teilen eines Staates zum Ausdruck. Die territoriale Unversehrtheit der Staaten ist ihnen wichtiger als das Selbstbestimmungsrecht der Völker, auf das sich die sezessionswilligen Völker immer berufen.

Konnten sich das Referendum und die anschließende Eingliederung der Krim in die Russische Föderation noch auf die Friedlichkeit des Prozesses, der kein Blut gekostet hat, berufen, so ist die Abtrennung der Donbass-Regionen eine eindeutige militärische Annexion. Darüber mögen auch die Abstimmungen nicht hinwegzutäuschen und alle Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht muss hier scheitern.

Seit seiner Kodifizierung in Art. 1 der beiden Internationalen Pakte über bürgerliche und politische sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 wird dem Selbstbestimmungsrecht zwar zwingende völkerrechtliche Verbindlichkeit zuerkannt. "Kraft dieses Rechts", heißt es übereinstimmend in beiden Pakten, "entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung". Ein Recht auf Sezession ist darin aber nicht enthalten.

Entscheidende politische Bedeutung hat das Selbstbestimmungsrecht in den Jahre der antikolonialen Befreiungskriege vor allem in Afrika erlangt. Die Befreiungsbewegungen wurden als legitime Repräsentanten ihres Volkes anerkannt.

Als zentrale rechtliche Grundlage verschaffte das Recht auf Selbstbestimmung ihnen die juristische Legitimation für ihren Kampf gegen die Kolonialherren. Gleichzeitig gestand es ihnen das Recht auf Sezession zu, um einen eigenen, unabhängigen Staat zu bilden. Bis zum Ende der Dekolonisation erfüllte sich das Selbstbestimmungsrecht in der Sezession, der Trennung von der alten Kolonialmacht.

Aber schon 1964, als die großen Kolonialmächte weitgehend ihren Rückzug angetreten hatten, bekannte sich die Organisation Afrikanischer Einheit (OAU) zu dem Grundsatz, dass den Völkern das Zusammenleben in den alten verbliebenen kolonialen Grenzen zuzumuten sei, wenn sie einmal die Unabhängigkeit von der kolonialen Herrschaft erlangt haben. Nur wenn daraus unüberwindbare, den internationalen Frieden gefährdende Konflikte erwachsen, sei eine Sezession möglich.

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