Der Blick aus fremden Augen: verpönt, aber nötig

Menschen können sich in Andere hineinversetzen. Doch diese wichtige Fähigkeit ist heute unter Beschuss. Warum, und was kann man dagegen tun?

Gedankenlesen ist unmöglich, technisch ebenso wie übersinnlich, und wird es immer bleiben – siehe die diversen Artikel meines geschätzten Kollegen Stephan Schleim dazu. Wie leistungsstark und miniaturisiert auch immer Scanner, Elektroden und Verstärker werden mögen – was im Kopf eines Anderen vor sich geht, werden wir nicht erfahren. Welch ein Glück! Die Gesellschaft bräche innerhalb von Stunden zusammen, wenn wir jederzeit wissen könnten, was der oder die Andere denkt.

Etwas Ähnliches und dabei Besseres aber gehört zu unseren alltäglichen Fähigkeiten: Wir können uns in Andere hineinversetzen und uns vorstellen, wie sie die Welt wahrnehmen. Wir sind imstande, gedanklich aus uns selbst herauszutreten und die Perspektive eines Anderen einzunehmen – buchstäblich ebenso wie im übertragenen Sinne. Im Gegensatz zum "echten" Gedankenlesen ist dies eine Form, ohne die Gesellschaft wohl nicht möglich wäre. Doch davon später.

Neurowissenschaftler und Philosophen machen sich viele Gedanken darüber (z.B. hier), wie ein Selbstbild, also das Konzept einer Person, die einen festen Ort im Raum hat und die Welt aus einer Perspektive erlebt, im Gehirn entsteht. Und das ist ja auch wirklich nicht trivial: Sobald ein Tier nicht mehr rein reflexhaft reagiert, konstruiert es sich irgendwie ein inneres Abbild der Welt, und sich mitten darin.

Trotzdem stellt sich bei genauerem Hinsehen mindestens ebenso drängend die gegenteilige Frage: Wie ist es möglich, das nicht zu haben? Denn: Gehen wir gedanklich mal evolutionär und phylogenetisch ein paar Stufen nach unten, dann sehen wir einfache, wurmförmige Tiere, deren Sinnesorgane ihnen ein sehr einfaches Bild von der Umwelt vermitteln, das sich unmittelbar auf ihre Bedürfnisse bezieht.

Diese innere Schaltstelle ist der Kern des "Selbst", die Innenwelt als Gegenstück zur Umwelt. Und die ist, im einfachsten Falle, immer "hier und jetzt". Der notorische Regenwurm ist immer ganz bei sich, immer in der Gegenwart. Dass er sich nicht dort fühlt, wo er ist, sondern eine außerkörperliche Erfahrung auf der Wiese hat, ist undenkbar.

Nein, das Wunder ist im Gegenteil die Fähigkeit, diese Innenperspektive zu verlassen. Es bedarf gewaltiger Rechenleistung, sich selbst so zu sehen, als befände man sich außerhalb. Doch die großen Kosten amortisieren sich: Raubtiere ebenso wie ihre Beute haben einen Vorteil davon, zu wissen, ob der Andere sie gerade sehen kann. Und im sozialen Miteinander ist es nützlich, die guten oder schlechten Absichten eines Artgenossen zu erkennen und nötigenfalls die Vorräte noch einmal umzulagern, wenn das erste Versteck beobachtet wurde.

Außerkörperliche Gehirne

Sozialen Arten aber dient diese Fähigkeit nicht nur zum Eigennutz, ist sie doch – im Gegenteil – das Herz dessen, was wir Altruismus nennen. Nur wer erkennen kann, wie es dem Anderen geht, der kann auch darauf eingehen. Ohne Einfühlung kein Mitgefühl.

Ein-fühlung heißt auf Gelehrten-Altgriechisch Em-Pathie. Mit der aber ist es gar nicht so einfach, wie man bei Autisten beobachten kann. Es ist ein Unterschied, ob ich wahrnehme, wie ein Anderer sich fühlt, oder ob ich überlege, was ein Anderer denkt. Manche, wie der Kollege Schleim, nennen das "emotionale vs. kognitive Empathie", andere Empathie vs. Theory of Mind, oder auch affektive vs. kognitive Theory of Mind.

Beide Wege der Einfühlung können Menschen dazu bringen, anderen Menschen zu helfen. Eine Studie maß die Hirnaktivität von Versuchspersonen, während sie eine kleine Geldsumme an Wohltätigkeitsorganisationen spenden konnten. Zusätzlich gaben die Probanden an, ob sie ihre Entscheidung emotional getroffen hatten, oder weil sie die Perspektive der Hilfsempfänger eingenommen hatten. Und siehe: Wer aus emotionaler Empathie großzügig war, bei dem fand sich erhöhte Aktivität in der vorderen Inselrinde, einem Gebiet, das mit der Wahrnehmung des eigenen Körpergefühls zu tun hat.

Wer sich hingegen in die Beschenkten hineinversetzte, der hatte dazu den Bereich angeheizt, wo der Schläfenlappen in den Scheitellappen übergeht (temporo-parietal junction, TPJ – den brauchen wir gleich noch mehrfach). Wie jemand die Entscheidung traf, war übrigens – das zeigte ein zusätzlicher Test – wahrscheinlich eine Charaktereigenschaft.

Dass die unterschiedlichen Formen von Empathie auch unterschiedliche Gehirngebiete beanspruchen, haben zahlreiche Studien bestätigt. Sie sind sich einig darin, dass der kognitive Perspektivwechsel, das Sich-in-Andere-Hineinversetzen, die Theory of Mind, eine Leistung des sogenannten Ruhezustandsnetzwerks ist. Damit wird ein Verbund von Hirnrindengebieten bezeichnet, die immer dann in Aktion treten, wenn der Mensch äußerlich nichts tut und sich entspannt. Zu seinen Aufgaben zählen Tagträumerei, Selbstbildpflege, Kreativität und eben Perspektivwechsel, und ein Kernbestandteil ist die TPJ.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.