Medienkritik: Hört auf, "Skandal" zu schreien!

Wer hat Interesse an der Normierung der Kunst? Das Ende der documenta, die Kritik der Politikkritik und das Filmfestival von San Sebastián – zur jüngsten Tendenz im Kulturbetrieb.

Was ist eigentlich ein "Skandal"? Und was ist ein "Skandalregisseur"? Was sind "skandalöse Äußerungen"? In letzter Zeit gibt es eine Inflation des Wortes "Skandal".

Alleine in diesem Jahr hatten wir es in Deutschland nahezu monatlich mit neuen sogenannten "Skandalen" zu tun und zwar zunehmend im Kulturbereich. Allen voran die jetzt zuende gehende documenta, davor die Kritik an Meinungen zum Ukraine-Krieg und Russland oder zur Coronapolitik der Regierung, die von den herrschenden Meinungen der Medienentscheider abwichen.

Zuletzt aber auch der österreichische Regisseur Ulrich Seidl und sein Film "Sparta", der in der vergangenen Woche beim Festival von San Sebastian Premiere hatte. Zuvor war er einer wochenlangen, von Boykott- und Cancel-Forderungen begleiteten medialen Diffamierungskampagne ausgesetzt, obwohl kaum einer den Film überhaupt gesehen hatte.

Die documenta gilt als Skandalausstellung, Seidl als Skandalregisseur. Der Begriff des Skandal ist dabei allzu oft eine Chiffre für "mögen wir nicht" oder für "verdient Rufmord".

Eine neue "Aktion saubere Leinwand"

Denn klar ist, dass der Begriff "Skandal" ganz objektiv ein Ereignis oder ein Menschen meint, der Anstoß oder Aufsehen erregt. Etwas veraltet ist auch die neutralere, weniger wertende Benutzung des Wortes im Sinne eines großen Lärms und Radaus. Skandal wird häufig, so schreibt es Wikipedia, "synonym zum Begriff Affäre verwendet". Skandal hat dabei wenig mit legitimer Aufklärung und viel mit künstlicher Empörung zu tun, mit gemachter Aufgeregtheit.

Die Frage ist vor allem, wer eigentlich darüber entscheidet, wann etwas zum Skandal wird. Wir erinnern uns an die sogenannten "Skandalfilme" der 1950er und 1960er Jahre: Filme wie "Die Sünderin" oder Ingmar Bergmans Werk "Das Schweigen".

Damals kämpfte eine "Aktion saubere Leinwand" gegen sogenannte "Skandalfilme". Und ein bisschen hat man den Eindruck, als ob genau so eine "Gruppe saubere Leinwand" heute wieder aktiv ist.

Die Skandalisierung ist dabei tatsächlich in erster Linie eine Folge des Wertverlusts und Bedeutungsverlusts klassischer Medien im Zuge der Digitalisierung. Tageszeitungen und Printmagazine kämpfen ums Überleben.

Die Folge ist die Entertainisierung von nahezu allen Medien, die Folge sind Vulgarisierung, Infantilisierung und Boulevardisierung von Inhalten wie Präsentation, ein allgemeiner Populismus; die Folge sind Niveauverlust und Kommerzialisierung.

Mediale Grenzüberschreitung: Ulrich Seidl als Beispiel

Manche halten den Wiener Ulrich Seidl für einen "Skandalregisseur" und nennen ihn auch so. Aber was soll das sein, ein "Skandalregisseur"? Schon die Idee des "Skandalregisseurs" ist eine dumme Behauptung.

Empörend ist die Frechheit, mit der in manchen Texten jetzt österreichische Autorenfilmer wie Seidl und auch Michael Haneke zu "Skandalregisseuren" heruntergebrochen werden, so als ob dies eine Rolle wäre, die man freiwillig sucht und nicht eher das Resultat skandalisierender Medien, die erst jemanden zum "Skandalregisseur" erklären, um ihm dann aus der Tatsache, ein "Skandalregisseur" zu sein, einen Strick zu drehen.

Ulrich Seidls neuer Film "Sparta" hatte jetzt in San Sebastian Weltpremiere, nachdem in den letzten zwei Wochen eine regelrechte Hexenjagd über den österreichischen Regisseur, der für seine Hybrid-Filme an der Grenze auf der Grenze zwischen Spielfilm und Dokumentarfilm bekannt ist, hereingebrochen war.

Die Vorwürfe lauten zusammengefasst: Verletzung der Aufsichtspflicht gegenüber Jugendlichen, Machtmissbrauch und Grenzüberschreitungen am Set, unvollständige Aufklärung über den geplanten Film – wo steht eigentlich geschrieben, dass Mitarbeiter eines Filmteams oder Laiendarsteller ein Recht auf vollständige Aufklärung über den geplanten Film haben?

Und wo steht geschrieben, dass Filmemacher selbst zu Beginn oder während eines Drehs vollständig über das, was am Ende herauskommt, Bescheid zu wissen haben? Die Beispiele, dass dies nicht der Fall ist, sind Legion.

Nichts von den Vorwürfen ist bewiesen. Alles wird bestritten. Aber es ist in der Welt, und einmal in die Welt gesetzt rattert die mediale Rufmordmaschine ungestört.

Umgekehrt ist deutlich erkennbar, dass man es im Fall des Beispiels Ulrich Seidl (ähnlich wie bei anderen zum Teil oben genannten Vorgängen) mit Grenzüberschreitungen der Medien und einem Machtmissbrauch mancher Journalisten zu tun hat. Etwa, wenn wie auf Zeit online die augenblicklichen Anklagen und unbelegten Vorwürfe zum Anlass genommen werden, Seidl an und für sich eine Art ästhetischen Schauprozess zu machen.

Auf den Gedanken, dass es vielleicht jetzt auch nicht gerade der beste Zeitpunkt ist, um alles das endlich mal zu sagen, was man schon immer gegen Ulrich Seidl hatte, ist bei der deutschen Wochenzeitung offenbar niemand gekommen.

Diese mediale Grenzüberschreitung und der journalistische Machtmissbrauch häufen sich im letzten Jahrzehnt auffallend – nicht zuletzt eine Folge gesellschaftlichen Wandels und des zunehmenden Drucks auf Medien.

Mediale Skandalisierung des Kulturbetriebs als neue Normierung

Wofür stehen nun diese und andere Normierungstendenzen der Gegenwart, die zuletzt – nach Politik und Wirtschaft – vor allem Kultur und Medien treffen?

Es handelt sich kaum überraschend um einen Ausfluss des allgemeinen rechtskonservativen deregulatorischen Neoliberalismus, der seit Ende der 1970er Jahre alle Ebenen unserer Zeitalters prägt und alle dessen Facetten nach seiner Façon umgestaltet und ausrichtet. Es ist eine Revolution von rechts, die keinen Bereich unseres Lebens verschont.

Natürlich hat die mediale Skandalisierung des Kulturbetriebs auch einfach die Funktion, von vermeintlich schwierigen, problematischen, intellektuellen oder gar (Gott behüte!) "elitären" Formen und Inhalten der eigentlichen kulturellen Werke abzulenken – zugunsten einer "guten", also einfach erzählbaren Geschichte.

Was durch die mediale Skandalisierung des Kulturbetriebs aber tatsächlich vor allem geschieht, ist, dass eine Gesellschaft ihre Mitglieder normieren möchte. Sie möchte Anstand, Moral, Sitte; sie möchte, dass alle das tun, was alle tun sollen.

Und die Kunst ist seit jeher das widerständigste Element jeder Gesellschaft. Die Künstler sind genau diejenigen Individuen, die beispielhaft zeigen und allen anderen vorführen, dass andere Entscheidungen möglich sind, dass Moral etwas Individuelles ist und letztlich persönlicher Willkür und Entscheidung unterliegt, dass sie sich im Einzelfall zeigt und nur im Unterscheidungsakt gegenüber einem Mainstream beweist, aber nicht Im-Sich-Fügen an eine Mehrheit.

Die Mehrheit reagiert darauf verständlicherweise allergisch. Sie verlangt Normierung. Normierung liegt nun aber nicht im Interesse aller Einzelnen und wahrscheinlich noch nicht einmal im Interesse einer Gesamtheit.