Messerattacken, verwirrende Zahlen und Konsequenzen

Die Angst vor Messerattacken geht um. Doch inwieweit gibt es dafür tatsächlich mehr Gründe als in der Vergangenheit? Symbolbild: Niek Verlaan auf Pixabay (Public Domain)

Zweifel an Staatenlosigkeit des Täters von Brokstedt. Debatte vor allem auf ausländerrechtlicher Ebene. Alte Definition von Messerangriffen sorgt für Verwirrung.

Nach der für zwei junge Menschen tödlichen Messerattacke in einem Regionalzug bei Brokstedt am Mittwoch vergangener Woche reißt die Debatte um Konsequenzen nicht ab. Sie konzentriert sich auf ausländerrechtliche Fragen, während polizeiliche Erfassungskriterien und Definitionen von Messerangriffen für Verwirrung sorgen.

Mittlerweile sind auch Zweifel an der Staatenlosigkeit des festgenommenen Täters aufgekommen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und andere hatten zuvor die Frage aufgeworfen, warum der nach eigenen Angaben 2014 aus dem Gazastreifen geflüchtete Palästinenser "noch im Land" und zudem nicht Haft gewesen sei, nachdem er bereits vor dem Angriff straffällig geworden war.

Als Konsequenz wird nicht nur von der AfD, sondern auch in Leitartikeln bürgerlicher Medien – etwa im Münchner Merkur – gefordert, "Straftäter unter den Migranten konsequent außer Landes zu schaffen". Der Chefredakteur wirft SPD und Grünen ein "Desinteresse" daran vor. Der Focus spricht von "Scheinheiligkeit".

Eine Staatenlosigkeit des Asylbewerbers wäre zwar ein handfestes Abschiebehindernis und nicht nur eine politische Willensfrage auf deutscher Seite, weil sich in solchen Fällen kein anerkannter Staat für die Aufnahme zuständig fühlt, allerdings scheint in diesem Fall unklar zu sein, was unternommen wurde, um dies abzuklären.

"Der Beschuldigte hat eine ungeklärte Staatsangehörigkeit", sagte Schleswig-Holsteins Integrationsministerin Aminata Touré (Grüne) am Mittwoch laut einem Bericht des Fernsehsenders n-tv im Innen- und Rechtsausschuss des Landtags in Kiel. Eine Staatenlosigkeit sei nicht behördlich festgestellt worden.

Sie verstehe, dass sich viele Menschen die Frage stellten, ob ein Widerruf des Schutzstatus die Tat hätte verhindern können. "Man kann in diesem Bereich derzeit aber nur spekulieren", so Touré.

Während der Schwerpunkt der Debatte auf Abschiebemöglichkeiten liegt, stellt sich allerdings auch die Frage, warum Ibrahim A. ganz unabhängig von Herkunft und Aufenthaltsstatus nicht in Haft war. Dafür, dass er bereits einen Obdachlosen mit einem Messer im Gesicht verletzt hatte, blieb seine Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung und Diebstahls im unteren Bereich des Strafrahmens. Er wurde wenige Tage vor der Tat in Brokstedt aus der U-Haft entlassen, durch die seine Strafe von gut einem Jahr bereits als verbüßt galt.

Begriffs-Wirrwarr: Was genau heißt "Messerangriffe"?

Unterdessen kursieren in Medienberichten unterschiedliche Zahlen zur Häufigkeit von Messerangriffen in Deutschland allgemein. Geschuldet ist die Verwirrung wohl auch den unterschiedlichen Definitionen der Bundesländer.

Das Bundeskriminalamt (BKA) jedenfalls hat in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) für 2021 die Fälle gezählt, in denen ein Messer tatsächlich benutzt oder als Drohmittel verwendet wurde. 10.917 waren dies bundesweit an allen möglichen Tatorten.

"Messerangriffe" im Sinne der Erfassung von Straftaten in der PKS sind solche Tathandlungen, bei denen der Angriff mit einem Messer unmittelbar gegen eine Person angedroht oder ausgeführt wird. Das bloße Mitführen eines Messers reicht hingegen für eine Erfassung als Messerangriff nicht aus.


BKA-Definition in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) für 2021

Für 2022 liegt noch keine bundesweite Auswertung des BKA vor – die PKS für 2021 wurde im April vergangenen Jahres veröffentlicht.

Die amtliche Zahl für 2021 liegt jedenfalls deutlich unter der, die 2021 in Medienberichten für 2020 genannt wurde: "Fast 20.000 Messerangriffe innerhalb eines Jahres in Deutschland", hieß es damals – erstmals verbreitet von der Welt am Sonntag unter Berufung auf eine Abfrage bei den Innenministerien der Länder, die allerdings zum Teil andere Definitionen benutzten als heute das BKA.

Auch das BKA selbst scheint aber seine Erfassungs- und Auswertungskriterien seit 2019 geändert zu haben. Das geht aus der Antwort der hessischen Landesregierung auf eine Anfrage der AfD-Fraktion von 2020 hervor. Demnach wurden zeitweise in diesem Bereich auch Straftaten mitgezählt, bei denen die Delinquenten lediglich ein Messer in der Tasche hatten. Auf die entsprechende Anfrage machte vor wenigen Tagen der Blog "Volksverpetzer" aufmerksam.

2019 legte das Bundeskriminalamt (BKA) für alle Bundes- länder einheitliche Erfassungs- und Auswerteparameter im Bereich der PKS fest. Hierbei wird nicht differenziert, ob das Tatmittel Messer auch zum Einsatz kam. D.h., es werden auch Fälle inkludiert, bei denen ein Messer mitgeführt, aber zur Tatausführung nicht eingesetzt wurde.


Aus der Antwort des hessischen Innenministeriums auf die Kleine Anfrage von Dirk Gaw und Klaus Herrmann (beide AfD) vom 17. Januar 2020

Diese Definition hat das BKA inzwischen geändert. Nun war vor wenigen Tagen in Medienberichten bereits die Rede von einer Verdopplung von 2021 auf 2022 – speziell bei Messerangriffen in Zügen und auf Bahnhöfen. Die Bundespolizei habe 336 solcher Taten registriert, berichtete die Bild am Sonntag. Allein in Zügen sei die Zahl der registrierten Messerattacken von 44 auf 82 gestiegen.

Die Bundespolizei erreichen seither viele Nachfragen, einer ihrer Sprecher erklärte am Donnerstag gegenüber Telepolis, für die Beantwortung einer zwei Tage zuvor gestellten Anfrage brauche man noch Zeit.

Eisenbahngewerkschaft spricht von mehr Übergriffen und "Verrohung"

Ein Anstieg der Gewalt in öffentlichen Verkehrsmitteln ist allerdings nach Angaben der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG auch und gerade für die dort Beschäftigten spürbar. "Es scheint eine gewisse Verrohung in der Gesellschaft Einzug gehalten zu haben, davon zeugen auch Vorfälle in der Berliner Silvesternacht", erklärt EVG-Pressesprecher Oliver Kaufhold auf Anfrage von Telepolis.

Das Thema Sicherheit der Beschäftigten am Arbeitsplatz liegt uns sehr am Herzen und wir bearbeiten es bereits seit vielen Jahren. Wir haben hier auch bereits viel erreicht, müssen aber feststellen, dass die Zahl der Übergriffe in Zügen, Bussen und Verkehrsstationen über Jahre hinweg stetig gestiegen ist.


Oliver Kaufhold, Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft

Es habe auch im Zusammenhang mit der nun weggefallenen Maskenpflicht in Bussen und Bahnen "einen Anstieg des Eskalationspotenzials und auch verstärkt Pöbeleien und Übergriffe gegen Beschäftigte gegeben". Die EVG hatte sich deshalb auch für ein bundesweites Ende der Maskenpflicht statt eines schwer vermittelbaren "Regel-Flickenteppichs" eingesetzt. Messerangriffe oder Bedrohungen mit Messern seien aber in diesem Zusammenhang "zum Glück nur sehr selten" vorgekommen, so Kaufhold.

Vereinzelte Medienberichte zeugen davon, dass es auch solche Situationen gegeben hat.