Zentralbanken mit steigender Inflationstoleranz

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Das Wesen der Inflation verändert sich. Die hohen Energiepreise werden bleiben. Zentralbanken müssen, um einen Absturz zu verhindern, eine dauerhaft höhere Inflation tolerieren. Gastbeitrag.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat die in Deutschland befürchtete Rezession zwar abgesagt, aber die düsteren Prognosen bleiben. Die deutsche Wirtschaft werde in diesem Jahr nicht schrumpfen, sondern um 0,2 Prozent wachsen, so die Prognose in dem von ihm vorgelegten Jahreswirtschaftsbericht (vgl. Rezession "abgesagt", Kaufkraft sinkt weiter).

Der Dank hierfür gebührt der EZB, die sich erst im zweiten Halbjahr 2022 nach langem Gerede und erst, als der Euro gegenüber dem US-Dollar fast 30 Prozent an Wert verloren hatte, zu Zinserhöhungen durchringen konnte.

Denn trotz des Anstiegs der Inflation auf zweistellige Werte, sorgt sie mit einem Zinssatz von nur 2,5 Prozent sogar für sinkende und weiterhin negative Realzinsen, eine entsprechend hohe Kreditnachfrage und unterstützt damit die Konjunktur.

Sehr zupass kam den Zentralbanken wie auch den Staaten, dass die Inflation im Dezember letzten Jahres an Dynamik verlor und sogar ihren Höhepunkt erreicht haben könnte.

Sofort haben sowohl die amerikanische Notenbank als auch die EZB die geldpolitische Straffung gemildert. Statt der ursprünglich anvisierten Leitzinserhöhungen um 0,75 Prozent, hoben beide Zentralbanken die Zinsen im Dezember nur um 0,5 Prozent an.

Mit dieser Abbremsung der geldpolitischen Straffung wollen die Zentralbanken dem drohenden wirtschaftlichen Abschwung entgegenwirken. Bereits im ersten Halbjahr 2022 war die US-amerikanische Wirtschaft geschrumpft und nach einem geringen Wachstum im zweiten Halbjahr droht sie 2023 erneut in eine Rezession zu geraten.

Die deutsche Wirtschaft stagnierte im vierten Quartal 2022. Für das erste Halbjahr 2023 wird ein Rückgang der Wirtschaftsleistung erwartet, in der Eurozone soll die Wirtschaft stagnieren.

Angst vor dem wirtschaftlichen Abschwung

Zentralbanken, Staaten und Unternehmen steckt die Angst im Nacken, dass auf die Stagnation der letzten Jahre und trotz der enormen fiskalischen Stimulation der Konjunktur nun sogar ein Abschwung folgt.

Denn dieser könnte die – seit Jahrzehnten vor allem mit geldpolitischen Mitteln erreichte – Stabilisierung der Wirtschaft in den entwickelten Volkswirtschaften gefährden. Steigende Zinsen, so wird befürchtet, könnten vor allem in Europa die problematische wirtschaftliche Lage und die zudem düsteren Aussichten noch weiter verfinstern.

Die ohnehin fragile und von fiskalischer Dauerstimulierung abhängige Konjunktur könnte vollends abgewürgt werden und in eine Abwärtsspirale rückläufigen Wachstums und außer Kontrolle geratender Staatsschulden münden. Eine geldpolitische Straffung, die über das Verbale hinausginge, wäre in dieser Lage toxisch.

Sie würde der seit Jahrzehnten verfolgten und allgemein befürworteten geldpolitischen Strategie, die Wirtschaft und die Staaten mit immer billigerem Geld zu stabilisieren, diametral entgegenlaufen.

Wie Inflationsraten ihre Schrecken verlieren

In Anbetracht dieses Szenarios verliert auch eine dauerhaft weit über dem Inflationsziel von zwei Prozent liegende Inflationsrate ihren Schrecken und erscheint nunmehr hinnehmbar.

Wie real diese Überlegungen sind, die eine höhere Inflation zugunsten einer abgeschwächten Rezession akzeptieren, zeigt der Einwand des ehemaligen US-Finanzministers und früheren Chefökonomen der Weltbank, Larry Summers.

Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos warnte er vor Überlegungen, im Kampf gegen die Inflation die Gefahr einer Rezession zu verringern, indem man "höhere Inflationsziele" setze.

Der französische Notenbankchef und EZB-Ratsmitglied Francois Villeroy de Galhau erwartet hingegen, dass es ihm und seinen EZB-Kollegen gelingen wird, bereits ab diesem Sommer wieder für sinkende Zinsen zu sorgen, denn dann sollen sie ihren höchsten Stand erreicht haben.

Die EZB solle einen "Abschluss-Zins" erreichen, sagte er in seiner Neujahrsansprache. Man müsse pragmatisch sein und dürfe nicht in "einen Fetischismus für allzu mechanische Erhöhungen" verfallen.

Zuvor hatte sich der niederländische Notenbankchef Klaas Knot öffentlich gegen den aufkommenden Druck zur Vermeidung weiterer Zinserhöhungen gewendet. Es sei "ein bisschen wie ein Witz", in einer Phase, in der die EZB mit ihrer Zinspolitik die Konjunktur lediglich weniger fördere und die Wirtschaftsaktivität noch nicht bremse, "vom Risiko einer zu starken Straffung zu sprechen".

Wie sich das Wesen der Inflation verändert

Für die Federal Reserve (Fed), vor allem aber für die EZB, ist der sich verändernde Charakter der Inflation ein zunehmend größer werdendes Problem. Denn ursprünglich wirkten die infolge der Corona-Krise aus dem Takt geratenen Lieferketten inflationsauslösend.

Wegen Lockdowns, Krankheitswellen und Konjunkturprogrammen änderten sich sowohl die Käuferpräferenzen als auch das oft nur temporär limitierte Angebot, so dass dieses nicht mit der Nachfrage mithalten konnte.

Die Anbieter konnten die Preise knapper Güter bis hin zum Öl weitgehend diktieren und daher die Preise oft deutlich über den tatsächlich gestiegenen Aufwand der Güterbereitstellung anheben.

In dieser Phase konnte die EZB noch behaupten, dass "dieser Anstieg der Inflation nicht von Dauer sein" werde, wie die EZB-Präsidentin Christine Lagarde im Oktober 2021 beteuerte.

Damals, so das EZB-Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel, sei die EZB davon ausgegangen, dass die "Inflationsursachen von allein wieder abklingen" werden.

Zum Schrecken der Zentralbanken hat die Inflation jedoch zügig ihr Wesen verändert.

Die Unternehmen haben den von vielen ihrer Lieferanten aufkommenden Preisdruck nicht durch eigene Anstrengungen kompensieren oder – wie in den letzten Jahrzehnten typisch – wiederum an andere Lieferanten zurückgeben können. Stattdessen mussten sie diesen Druck, trotz der damit verbundenen Risiken, an ihre eigenen Kunden weiterreichen.

So hat der Preisauftrieb rasch an Breite und Dynamik gewonnen, nachdem sich infolge steigender Energiepreise – zunächst beim Öl – ein zudem in der Breite wirkender Auslöser entwickelte.

Die Inflation hat daher nicht nur alle Güter mehr oder weniger stark erfasst, sondern auch dadurch an Dynamik gewonnen, dass viele Unternehmen die für sie günstige Marktsituation mit knappem Angebot auch weiterhin für Preisanhebungen nutzen, die weit über die eigenen Kostensteigerungen hinausgehen.