Türkei-Wahl: Erdogan im Machtrausch

Kilicdaroglu verliert Stichwahl. Das war vielleicht die letzte Chance, den Vormarsch der Diktatur aufzuhalten. Was bedeutet das für die EU?

Schon die Ergebnisse der ersten Runde der Präsidentschaftswahl waren selbst für die Anhänger Recep Tayyip Erdogans eine Überraschung gewesen. Nachdem Meinungsumfragen einen Sieg von Kemal Kilicdaroglu, dem Kandidaten der vereinigten Opposition, prognostiziert hatten, erreichte dieser nur knapp 45 Prozent, auch Erdogan verpasste aber mit 49,5 Prozent die absolute Mehrheit der Stimmen knapp.

Starke Nationalisten werden Königsmacher

Erstaunlich stark war mit Sinan Ogan auch der Kandidat einer jungen Koalition aus rechten und rechtsextremen Nationalisten, der fast drei Millionen Stimmen und damit mehr als fünf Prozent holte. Ogan unterstützte im zweiten Wahlgang Erdogan, doch es war unklar, ob seine Anhänger dieser Empfehlung folgen würden. Sie gelten als Protestwähler, die sowohl der Hegemonie der seit 20 Jahren regierenden Erdogan-Partei "für Gerechtigkeit und Aufschwung" (AKP) als auch der zuvor dominanten Republikanischen Volkspartei (CHP) überdrüssig sind.

Welch hohes Potential generell rechte, nationalistische Parteien haben, hat auch die in der ersten Runde am 14. Mai zeitgleiche Parlamentswahl gezeigt. Die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), Teil der Erdogan-Koalition, hatte zehn Prozent geholt, trotz rechter Konkurrenz in den Reihen der Opposition in Form der Iyi-Parti und dreier weiterer Parteien aus dem rechten Spektrum.

Kilicdaroglu versuchte zuletzt vergeblich durch eine Verschärfung seiner Rhetorik in der Migrationsfrage auf den Zug aufzuspringen und nationalistisch gesinnte Wähler für sich zu gewinnen. "Die Syrer werden gehen" stand auf seinen neuesten Wahlplakaten. "Sobald ich an der Macht bin, werde ich alle Flüchtlinge nach Hause schicken" versprach er in einer Videobotschaft am 17. Mai. Er schätzte er die Anzahl der Syrer und andere Migranten in der Türkei – doppelt so hoch wie die meisten Experten – auf zehn Millionen.

Warnung vor Russland brachte keinen Erfolg

Kilicdaroglu konzentrierte sich daneben in seinen Reden auf eine Warnung vor einer Abhängigkeit von Russland und einer solchen Erdogans von Putin persönlich. "Wenn das russische Projekt zum Bau eines Gashubs in der Türkei umgesetzt wird, steigt unsere Abhängigkeit von Russland von 30 bis 40 Prozent auf 80 bis 90 Prozent", warnte er. Doch auch diese Mahnungen brachten ihm nicht den gewünschten Sieg.

Erdogan hat seinen Wahlkampf vor der zweiten Runde dagegen nicht wesentlich verändert. Bereits in der Nacht zum 15. Mai bekundete er sein Vertrauen in einen Sieg in der zweiten Runde. In der Zeit unmittelbar vor der Stichwahl dominierte der Präsident wie gewohnt die türkischen Medien, die zu mehr als 90 Prozent unter der Kontrolle des engsten Kreises um Erdogan stehen.

Er gab Interviews, traf sich mit Wählern, besuchte die Erdbebenregionen und beschuldigte Kilicdaroglu, Verbindungen mit Terroristen zu haben und in Komplizenschaft mit dem Westen zu stehen.

Letzteres, obwohl die Türkei unter Erdogan in hohem Umfang Waffenlieferungen aus westlichen Nato-Partnerländern wie Deutschland und den USA erhalten hatte. Erdogan benutzte zuletzt sein Veto-Recht beim Nato-Beitrittsrozess Finnlands und Schwedens, um auch die gewünschten F-16-Kampfjets aus den USA zu bekommen.

Angesichts des Erdogan-Wahlsiegs und seiner Rhetorik mehren sich nun Stimmen, die den EU-Beitrittsprozess der Türkei auch offiziell beenden wollen. Von Bundeskanzler Olaf Scholz und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron gab es am Wahlabend dennoch erst mal Gratulationen zu dessen Wiederwahl. "Deutschland und die Türkei sind enge Partner und Alliierte - auch gesellschaftlich und wirtschaftlich sind wir stark miteinander verbunden", schrieb Scholz auf Twitter. "Nun wollen wir unsere gemeinsamen Themen mit frischem Elan vorantreiben."

Drei Tage vor der Wahl hatte der Oppositionsführer Erdogan zu einer persönlichen Debatte herausgefordert. Doch der lehnte ab, da es "mit Kilicdaroglu nichts zu besprechen gibt".

Jahrhundertpräsident mit immer mehr Macht

Nach dem Wahlsieg fehlten Erdogan nicht die gewohnten großen Worte. "85 Millionen Menschen haben gewonnen. Wir haben die Tore zum 100. Geburtstag der Türkei geöffnet", sagte Erdogan vor der Bekanntgabe des offiziellen Endergebnisses durch die zentrale Wahlkommission. Für ihn ist es ein wichtiges Symbol, dass er am 29. Oktober diesen Jahres den 100. Jahrestag der Republikgründung auf dem Präsidentenstuhl feiern wird.

Bis dahin hat er viel vor. Unter anderem hat der Staatschef wiederholt den Wunsch bekundet, eine neue Verfassung zu verabschieden, die die aktuelle von 1982 ersetzen soll. Das alles, obwohl die alte Verfassung 2017 bereits umfassend geändert und der amtierende Präsident dabei mit äußerst weitreichenden Befugnissen ausgestattet wurde. So kann er das Parlament aus beliebigen Gründen auflösen, Gesetze unter Umgehung des Parlaments verabschieden und 12 von 15 Richtern des Verfassungsgerichts selbst ernennen.

Die wichtigste Änderung bestand jedoch darin, dass die Verfassung zuvor die Präsidentschaft eigentlich auf zwei Amtszeiten beschränkte. Der Präsident kann nun jedoch im Falle einer vorgezogenen Wahl alle vorherigen Amtszeiten "auf null setzen", was nun zu einer lebenslangen Regel wurde.

Druck auf Opposition und Minderheiten wird zunehmen

Erdogan kontrolliert bereits weitgehend alle Zweige der Regierung und Verwaltung. Er wird das nun nutzen, um den Druck auf die Opposition des Landes zu erhöhen. In Gefahr ist hier zunächst der energische und beliebte Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu.

Dieser befindet sich bereits im Berufungsverfahrens eines Gerichtsprozesses, in dem er Ende letzten Jahres zu fast drei Jahren Haft verurteilt wurde – kombiniert mit einem fünfjährigen politischen Betätigungsverbot. Macht ihn Kilicdaroglu nicht zu seinem offiziellen Nachfolger in der CHP, wird er wahrscheinlich hinter Gittern landen. Erdogan kündigte zudem an, solange er an der Macht sei, werde der inhaftierte Vorsitzende der linken prokurdischen Oppositionspartei HDP, Selahattin Demirtas, das Gefängnis nicht verlassen.

Parallel wird sich die starke Polarisierung der türkischen Gesellschaft noch verstärken. Ausgegrenzt werden ethnische, religiöse und sexuelle Minderheiten. "Welche winzigen Sachen fördert die Opposition? LGBT-Unterstützer? Die Familie ist uns heilig!" schrie Erdogan schon in seiner Siegesrede.

Auch die Pressefreiheit wird, wie in Erdogans letzten Regierungsjahren, weiter Schaden nehmen. Von Platz 99 auf 165 stürzte sein Land im entsprechenden Index von "Reporter ohne Grenzen" unter seiner Herrschaft ab. Zugleich verschärfte sich die grassierende Korruption, wo das Land im Korruptionswahrnehmungsindex von Platz 64 auf 101 fiel.

Diese Verschlechterung der Lage ging zuletzt einher mit vielen Wirtschaftsproblemen und einer grassierenden Inflation, die Ende 2022 85 Prozent überstiegt. Fünfmal musste die türkische Lira in den letzten Jahren gegenüber dem Dollar abgewertet werden.

Dennoch glaubte eine große Anzahl von Wählern Erdogans Versprechungen, dass die Lage sich verbessern werde. Als Symbol seiner Pläne nutzte er das erste türkische Elektrofahrzeug TOGG oder das Atomkraftwerk Akkuyu in Zusammenarbeit mit Russland. Diese Versprechen muss er nun in der harten Tagespolitik einlösen.

Doch Erdogans Wähler sind auch teilweise bereit, im Tausch für staatliche Größe auf Komfort und Wohlstand zu verzichten. Es kann gut sein, dass das nötig sein wird: Fünf Tage vor der Wahl brach die türkische Lira zum Dollar mit einem Tauschverhältnis von 20:1 einen neuen Negativrekord.