Warum ein Ende des Ukraine-Krieges nicht in Sicht ist

Mit Nato-Chef Stoltenberg einverstanden: John Mearsheimer. Bild: privat

US-Politologe John Mearsheimer sprach in einem Interview jüngst wenig beachtete Aspekte an. Unser Autor kommentiert das Gespräch und liefert ein Follow-up. Darin: Zwei überraschende Zitate.

Aus Anlass des zweiten Jahrestages des Einmarsches Russlands in die Ukraine veröffentlichte die chinesische Tageszeitung Global Times am 22.02.2024 ein Interview mit John J. Mearsheimer, das ich übersetzt habe und das kürzlich bei Telepolis erschienen ist.

In dem Gespräch schätzt Mearsheimer ein, dass das Endergebnis des Ukraine-Konflikts wahrscheinlich ein eingefrorener Konflikt sein wird und ein echtes Friedensabkommen nicht zu erwarten sei. Das sei eine sehr deprimierende Situation, denn ein Ende des Konflikts zwischen den beiden Seiten sei nicht in Sicht.

Diesem Interview von Mearsheimer ist vor genau acht Monaten eine umfassende Analyse des Ukraine-Krieges von ihm vorausgegangen, die er auf der US-Plattform Substack veröffentlicht hatte und dessen damalige Einschätzungen sich inzwischen weitgehend bestätigt haben.

In einem ausführlichen Artikel bei Telepolis vom 18.08.2023 habe ich über diese Analyse berichtet und damals geschrieben, Mearsheimer sei zu der Einschätzung gekommen, dass der Ukraine-Krieg eine schreckliche Katastrophe sei und die Ukraine einer dunklen Zukunft entgegengehe, wenn der Krieg weitergeführt werde.

Düstere Aussichten: Keine Friedensverhandlungen in Sicht

Trotz dieser düsteren Aussichten sagte er schon damals, ein sinnvolles Friedensabkommen sei fast unmöglich zu erreichen. Stattdessen komme es bestenfalls zu einem eingefrorenen Konflikt, also einem Waffenstillstand, der jederzeit wieder in einen heißen Krieg umschlagen könne.

Weiterhin hat Mearsheimer damals überzeugend begründet, warum letztendlich Russland den Krieg in der Ukraine gewinnen werde, was ja in der Zwischenzeit wahrscheinlich de facto auch schon eingetreten ist. Denn Russland sei auf dem Schlachtfeld der Ukraine gegenüber bei der Art und Zahl der verfügbaren Waffen und der Anzahl der Soldaten auf Dauer in einer weit überlegenen Position.

Mearsheimer rät deshalb zu sofortigen Bemühungen um eine diplomatische Beendigung des Krieges auf der Basis der Akzeptanz einer Neutralität des Landes. Die einzige Hoffnung sei Diplomatie und Neutralität, sagt er. Nur so könne die Ukraine weitere bedeutende Gebietsverluste im Osten ihres Landes verhindern.

Trotzdem werden seitens der USA und des Westens und des ukrainischen Präsidenten Selenskyj Diplomatie und Friedensverhandlungen abgelehnt. Warum ist das so? Warum wird weiter so getan, als ob die Ukraine und der Westen den Krieg noch gewinnen und etwa die Krim, die seit 2014 russisches Staatsgebiet ist und deren Bevölkerung ganz überwiegend für Russland gestimmt hat, zurückerobern könnten?

Aus meiner Sicht hat das im Wesentlichen zwei Gründe: Der eine ist geopolitischer Natur und der andere hat mit der allgegenwärtigen Kriegspropaganda zu tun.

Der geopolitische Hintergrund des Krieges

Der Krieg in der Ukraine ist zwar auch ein von außen angeheizter Bürgerkrieg zwischen mit Russland verbundenen Menschen im Osten und ukrainischen Nationalisten und Faschisten im Westen des Landes, aber er ist vor allem ein Stellvertreterkrieg zwischen den USA und dem kollektiven Westen gegen Russland in der Ukraine, wobei die Ukraine die Bodentruppen liefert.

Die Ausführungen von Mearsheimer machen deutlich: In diesem Krieg geht es den USA und dem Westen vor allem darum, Russland zu schwächen ("zu ruinieren") und auf der Weltbühne möglichst auszuschalten. Deshalb spielen die berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands, auch hinsichtlich der Nato-Erweiterung, keine Rolle.

Aber die Weltordnung hat sich im letzten Jahrzehnt grundlegend verändert. Die vorherige unipolare Welt ist de facto zu einer multipolaren Welt geworden, in der Großmächte wie Russland, China und demnächst auch weitere Staaten, wie etwa Indien, ein Wort mitreden wollen.

Die USA, der seit der Auflösung der Sowjetunion einzige Hegemon und immer noch die mit Abstand stärkste Militärmacht auf der Welt, will aber ihren relativen Machtverlust nicht wahrhaben und kämpft um die Aufrechterhaltung ihrer Vorherrschaft. Sie wird dabei von den transatlantischen Eliten in der EU unterstützt, scheinbar ohne Rücksicht auf deren eigene Interessen.

Neben Russland erscheint den USA in den letzten Jahren immer mehr China, ein Land mit einer vergleichbar großen Wirtschaftsmacht, ein "peer competitor", wie Mearsheimer sagt, als ernst zu nehmender Konkurrent und zukünftiger vorrangiger Feindstaat.

Die gängige Propaganda-Erzählung

Vor diesem geopolitischen Hintergrund hat sich in unseren Hauptmedien eine allgegenwärtige Kriegspropaganda entwickelt, der wir von morgens bis abends ausgesetzt sind.

Dabei scheint es so zu sein, dass viele der Scharfmacher und Kriegstreiber in der Politik und den Medien Opfer ihrer eigenen Propaganda geworden sind und selbst an ihre abstrusen Erzählungen glauben, wie z. B., dass Putin einer neuer Hitler oder Stalin sei.

Wie von Mearsheimer seit über einem Jahrzehnt in zahllosen Videos und Artikeln dargestellt, geht die gängige Propaganda-Erzählung im Westen so:

Putin hat am 24. Februar 2022 einen "unprovozierten Angriffskrieg" in der Ukraine begonnen, weil er ein Imperialist oder Expansionist ist. Er will ein Großrussland schaffen und ist entschlossen, die gesamte Ukraine zu erobern. Wenn das erfolgt ist, wird er sich über andere Länder in Osteuropa hermachen und ein neues großes russisches Reich schaffen.

Dieser Sichtweise widerspricht der weltbekannte Politikwissenschaftler seit 2014 ganz entschieden und sagt, dass es für diese Erzählung keinerlei Beweise gebe.

Putins Entscheidung für die Invasion in die Ukraine habe vor allem damit zu tun, dass er die Nato-Erweiterung in der Ukraine als existenzielle Bedrohung für Russland ansieht und entschlossen war, dies zu verhindern.

Jens Stoltenberg als "Putins Marionette"

Aber gelegentlich können diese Tatsachen auch von den ärgsten kalten Kriegern nicht mehr verheimlicht werden, wie das aus einem kurzen Text hervorgeht, der von Mearsheimer am 4. März auf seiner Substack-Seite unter dem Titel "Jens Stoltenberg: Putins Puppet" erschien.

Hier folgt dieser Text, der aus zwei dokumentierten Zitaten Stoltenbergs besteht, in meiner Übersetzung:

Zitat 1 von Jens Stoltenberg, Nato-Generalsekretär, am Rande einer Sitzung des Gemeinsamen Ausschusses des Europäischen Parlaments am 7. September 2023:

"Präsident Putin hat im Herbst 2021 erklärt und schickte auch einen Vertragsentwurf, dass er keine weitere Nato-Erweiterung wünschte, den die Nato unterzeichnen sollte. Das war es, was er uns schickte. Und das war eine Vorbedingung, um nicht in die Ukraine einzumarschieren. Das haben wir natürlich nicht unterschrieben.

Das Gegenteil trat ein. Er wollte, dass wir dieses Versprechen unterschreiben und keine weitere die Nato-Erweiterung durchführen. Er wollte, dass wir unsere militärische Infrastruktur bei allen Bündnispartnern, die seit 1997 der Nato beigetreten sind, das heißt, bei der Hälfte der Nato, in ganz Mittel- und Osteuropa, entfernen. Das haben wir abgelehnt.

Also zog er in den Krieg, um die Nato zu verhindern, (und erhielt) noch mehr Nato, in der Nähe seiner Grenzen."

Zitat 2 von Jens Stoltenberg, Nato-Generalsekretär, vom 24. Februar 2024 – dem zweiten Jahrestag der russischen Invasion in der Ukraine. Er sagte in Kiew:

"Präsident Putin hat diesen Krieg begonnen, weil er die Tür der Nato schließen und der Ukraine das Recht verweigern wollte, ihren eigenen Weg zu wählen."

Dazu merkt John Mearsheimer an:

Leute wie Jens Stoltenberg, die argumentieren, dass die Nato-Erweiterung in der Ukraine die Hauptursache für den Ukraine-Krieg ist, werden gemeinhin als "Putins Marionetten" oder "Putins nützliche Idioten" bezeichnet. Dennoch ist Stoltenbergs Erklärung richtig.

Autor und Übersetzer: Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de