Wie Immanuel Kant in den Ukraine-Krieg geriet

Grab von Immanuel Kant in Kaliningrad. Bild: Gl0ck, Shutterstock.com

Im Jahr 2005 weihten Schröder und Putin noch eine Gedenktafel für den Philosophen ein. Nun ist ein Streit um sein Erbe entbrannt. Dabei geht es auch um die Ukraine.​

Auch Russland feiert den 300. Jahrestag der Geburt von Immanuel Kant. Seine Geburtsstadt Kaliningrad, das ehemalige Königsberg, wurde zum Zentrum der Feierlichkeiten.

Der Philosoph ist das wichtigste touristische Markenzeichen der Stadt: Sein Name findet sich in den Namen der Universität, der Geschäfte und sogar der Süßigkeiten. Aber auch Russland behauptet heute, in Kants Ideen die Begründung für seine aktuelle Politik zu finden.

Putins Lieblingsphilosoph

Im Januar dieses Jahres sagte Wladimir Putin bei einem Treffen mit den Familien russischer Soldaten, dass Immanuel Kant einer seiner Lieblingsphilosophen sei. Er plädiere dafür, seine Schriften zu lesen und zu versuchen, seine Ideen zu verstehen.

Es ist schwer zu sagen, wie sich die Wahrnehmung der Ideen Kants durch den russischen Präsidenten verändert hat. Im Jahr 2005, als er zusammen mit Bundeskanzler Schröder eine Gedenktafel in Kaliningrad einweihte, wies Putin darauf hin, dass Russlands friedliebende Politik auf den Lehren des Philosophen beruht. Putin damals:

Kant war kategorisch dagegen, zwischenstaatliche Streitigkeiten durch Krieg zu lösen. Und wir versuchen, uns in diesem Teil an seine Lehren zu halten.

Wladimir Putin, 2005

Fast 20 Jahre später, während eines Treffens mit Studierenden aus Kaliningrad vor den Wahlen, erläuterte Putin seine Interpretation von Kants Überlegungen darüber, was es bedeutet, "mit dem Verstand zu leben". Für Russland, so der Präsident, bedeute dies, sich von seinen nationalen Interessen leiten zu lassen.

Kant und der Konflikt mit der Ukraine

Bereits im Frühjahr 2021 unterzeichnete Putin den Erlass Nr. 300 Zur Feier des 300. Jahrestages der Geburt von Immanuel Kant". Daher zögern russische Politiker im Jubiläumsjahr nicht, sich zu Wort zu melden, Zitate des Philosophen in ihren Reden zu verwenden und ihre eigenen Interpretationen anzubieten. Dabei tat sich der Gouverneur der Region Kaliningrad, Anton Alichanow, am meisten hervor.

In seiner Winterrede auf dem Kongress russischer Politikwissenschaftler sagte der Gouverneur, der Konflikt zwischen Russland und dem Westen beruhe auf den Lehren des deutschen Philosophen:

Kant legte das Fundament der deutschen klassischen Philosophie, pumpte den deutschen Willen auf und schnitt ihn gleichzeitig von Gott und höheren Werten ab. So schuf die deutsche Philosophie, beraubt von Gott und höheren Werten, eine soziokulturelle Situation, in der der nationale Wille vor den Krupp‘schen Kanonen kapitulierte, und die Krupp‘schen Kanonen schossen auf Russland. Heute, im Jahr 2024, haben wir den Mut zu behaupten, dass nicht nur der Erste Weltkrieg mit Kants Werk begann, sondern auch der aktuelle Konflikt in der Ukraine.

Westen habe Kategorischen Imperativ verzerrt

Alichanow entwickelt seinen Gedanken weiter und kommt zu dem Schluss, dass der Westen das Verständnis des Kategorischen Imperativs verzerrt hat und Russland seine Sicht der Welt mit Gewalt aufzwingt.

"Der kategorische Imperativ erkennt in der Tat jedes Verhalten als ethisch an, dass jemand nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere zuzulassen bereit ist. Und im Prinzip klingt das edel, aber nur so lange, bis eine solche Haltung zur Haltung des Stärkeren wird", sagte Gouverneur Alichanow.

Am 22. April, dem 300. Jahrestag des Philosophen, hielt Anton Alichanow eine neue Rede bei der Eröffnung eines Internationalen Kant-Kongresses.

Zunächst erklärte der Gouverneur der Region, warum er es für wichtig hält, in Russland über Kant zu sprechen. Erstens ist seiner Meinung nach der Dialog über die Ideen des Philosophen eine Form des Respekts. "Kant ist unsere russische Trophäe", die Russland zu seinem Vorteil nutzen sollte, fügte er hinzu.

Man befinde sich mitten in einem "mächtigen Erkenntniskrieg, in dem unser Gegner teilweise versucht, sich hinter dem kant‘schen Erbe zu verstecken", meinte der Gouverneur. Und weiter:

"Unserer Meinung nach könnte unsere russische Interpretation von Kant dem entgegenstehen, weshalb wir eine großangelegte Revision, eine solche Rekapitulation des gesamten kantischen Erbes brauchen, die sich an den aktuellen Aufgaben unserer Geschichte, unseres Denkens orientiert".

Empörung in Deutschland

In Deutschland trifft die russische Haltung zu Kant auf unverhohlene Empörung. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat Putin in diesem Zusammenhang scharf kritisiert. Russlands Präsident habe kein Recht, sich auf Kant zu berufen. Diese Aussage tätigte Scholz während seiner Rede an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zum 300. Geburtstag des Philosophen.

Scholz zu Putin, Kant und Putins Taten

Scholz argumentierte, dass der von Putin zu verantwortende Krieg in der Ukraine und seine Politik in direktem Widerspruch zu den grundlegenden Aussagen Kants stehen. "Putin hat nicht die geringste Berechtigung, sich auf Kant zu berufen", betonte der Bundeskanzler. Putins Regierung sei bestrebt, Kant und sein Werk um fast jeden Preis zu vereinnahmen, obwohl dessen Vorstellungen von Menschenrecht, Menschenwürde und Frieden nicht mit Putins Aktionen vereinbar seien.

"Die russischen Angriffe und Verwüstungen in der Ukraine stehen für einen Vernichtungswillen, wie ihn in seiner schieren Maßlosigkeit wohl die wenigsten von uns im Europa des 21. Jahrhunderts noch für möglich gehalten hätten", sagte Scholz.

Scholz kritisierte auch die innenpolitische Situation in Russland und stellte fest, dass die Würde und die Autonomie des Einzelnen in "Putins Autokratie heute täglich mit Füßen getreten und im Keim erstickt" werden. Zudem betonte Scholz, dass Kant sich nicht als "Stichwortgeber für Angriffskrieg, Völkerrechtsbruch und Despotie" eigne.

Widersprüche und Auslassungen auf allen Seiten

Immanuel Kants Schrift "Zum ewigen Frieden" hatte 1795 eine visionäre Vorstellung von einem Weltfrieden präsentiert, der auf moralischen und rechtlichen Prinzipien beruht. Kant argumentiert, dass Frieden nicht einfach die Abwesenheit von Krieg bedeutet, sondern ein aktiver Zustand ist, der auf Recht, Freiheit und Sicherheit gründet.

Der Kern seiner Botschaft liegt in der Idee des "ewigen Friedens", der durch die Bildung eines föderativen Systems souveräner Staaten erreicht werden könnte. Kant betont die Notwendigkeit, das Völkerrecht zu respektieren, demokratische Verfassungen anzunehmen und kosmopolitische Prinzipien zu fördern.

Der Westen und die globale Friedensordnung

Für Kant war Recht und Gesetz von entscheidender Bedeutung in der internationalen Politik. Er glaubte fest daran, dass Staaten sich an moralische Prinzipien halten sollten, um Konflikte friedlich zu lösen. Zudem sah er die Zivilgesellschaft als einen wichtigen Akteur im Streben nach Frieden an, indem sie sich für demokratische Prinzipien, Menschenrechte und internationale Zusammenarbeit einsetzt.

Gerade die Forderung eines allgemeingültigen, internationalen Rechtssystems dürfte von vielen Beobachtern im Widerspruch zur westlichen Außenpolitik gesehen werden, vor allem im Globalen Süden.

Die vor dem internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen laufenden Verfahren gegen Israel und westliche Unterstützer belegen zumindest die Wahrnehmung eines sich zuspitzenden Widerspruchs zwischen dem moralischen Anspruch des Westens und seiner globalen Realpolitik.

Diesen Widerspruch weiß Russland für sich zu nutzen.