c't 8/2024
S. 50
Aktuell
Normung

Teure Einblicke

Wie Normung funktioniert und warum Normen Geld kosten

Eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshof (EuGH) hat jüngst einigen Staub aufgewirbelt: Sind Normen Teil des öffentlichen Interesses und damit kostenlos einsehbar?

Von Ulrike Kuhlmann

Am 5. März befasste sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit der Sicherheit von chemischem Spielzeug und chemischen Experimentierkästen und den zugehörigen europäischen Normen. In der Causa C-588/21, dem sogenannten „Malamud-Fall“, hatten die gemeinnützigen Organisationen Public.Resource.Org Inc. aus den USA und Right to Know CLG mit Sitz in Irland geklagt. 2018 beantragten sie bei der Kommission Zugang zu vier auf Unionsebene harmonisierten technischen Normen zur Sicherheit von Spielzeugwaren. Die Kommission lehnte diesen Antrag ab. Die anschließende Nichtigkeitsklage wies das Gericht 2021 ab. Doch die Anfang März 2024 ergangene Entscheidung der großen Kammer des EuGH hebt das Urteil aus 2021 nun endgültig auf, die vier besagten technischen Normen müssen kostenlos angeboten werden.

Ja, aber

Der EuGH bestätigt in seinem Urteil, dass Bürger die Möglichkeit haben müssen, sich mit den angeforderten harmonisierten Normen vertraut zu machen, um prüfen zu können, ob ein Produkt oder eine Dienstleistung den Anforderungen dieser Rechtsvorschriften entspricht. Wie das Deutsche Normungsinstitut DIN betont, stellt das Urteil des EuGH den urheberrechtlichen Schutz von harmonisierten Normen aber nicht generell infrage. Und damit auch nicht das etablierte Europäische Normungssystem; dazu gleich mehr.

Tatsächlich schreibt der Gerichtshof in seinem aktuellen Urteil, dass „dem zweiten Rechtsmittelgrund stattzugeben und das angefochtene Urteil aufzuheben (ist), ohne dass der erste Rechtsmittelgrund geprüft zu werden braucht“. Im zweiten Teil der Klage (dem zweiten Rechtmittelgrund) ging es darum, zu klären, ob ein überwiegend öffentliches Interesse an der Verbreitung dieser vier Normen besteht – dem wurde stattgegeben.

Der erste Teil beziehungsweise Rechtsmittelgrund befasste sich mit der Frage, ob die harmonisierten Normen unter den Urheberrechtsschutz der Normungsinstitute fallen, und diese Frage hat der Gerichtshof offengelassen.

Europäische Normung

Das Urteil des EuGH bezieht sich explizit auf sogenannte harmonisierte Normen, kurz hEN, die innerhalb der gesamten EU gelten. Diese sollen Handelsbarrieren im europäischen Binnenmarkt abbauen und den freien Handel stärken.

Etwa 85 Prozent aller Normprojekte haben heute einen europäischen beziehungsweise internationalen Hintergrund. Die Erarbeitung Europäischer Normen (EN) findet auf europäischer Ebene unter dem Dach der Normungsorganisationen CEN (Europäisches Komitee für Normung), CENELEC (Europäisches Komitee für Elektrotechnische Standardisierung) und ETSI (Europäisches Standardinstitut für Telekommunikation) statt. Die europäischen Organisationen und die Internationale Standardorganisation ISO setzen sich jeweils aus den Vertretern der lokalen Normungskomitees zusammen; das DIN vertritt die deutschen Interessen bei CEN und ISO.

Deutsche Normung

In Deutschland gilt die Normung als Selbstverwaltungsaufgabe der Wirtschaft. In diesem Sinn wurde 1917 das DIN gegründet. Aktuell unterstützt es als Projektmanager rund 36.500 Experten und Expertinnen aus Wirtschaft und Forschung, von Verbraucherseite und der öffentlichen Hand bei der Erarbeitung von Normen.

Zu den Aufgaben des DIN gehören die Sitzungsvorbereitung, -durchführung und -nachbereitung, die Überarbeitung und Bereitstellung von Dokumenten und die Spiegelarbeit zu den internationalen Gremien. Das DIN übersetzt EN-Normen und stellt sie den zuständigen Gremien bereit, es überprüft das laufende Programm auf Aktualität und übernimmt die Öffentlichkeitsarbeit. Außerdem führt es internationale Sekretariate bei CEN und ISO und erledigt projektbezogene und beratende Leistungen.

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Quelle: DIN

Als gemeinnütziger Verein arbeitet das DIN privatwirtschaftlich und finanziert seine Normungsarbeit über Mitgliedsbeiträge, Projektmittel aus der Wirtschaft und der öffentlichen Hand sowie über den Verkauf von Normen und Dienstleistungen. Hierfür gründete das Normungsinstitut 1924 mit dem Verein Deutscher Ingenieure (VDI) den Beuth-Verlag, der die Normen bis heute in gedruckter und digitaler Form anbietet und darüber hinausgehendes Material bereitstellt.

Normeneinsicht

Da das DIN das Urheberrecht an den Normen hält, darf es sie verkaufen. Deutsche Gesetze sind dagegen über das Portal „Gesetze im Internet“ frei abrufbar, auf EU-Richtlinien hat man über das Portal „EUR-Lex“ kostenlos Zugriff. Während Gesetze verbindlich anzuwenden sind, ist die Anwendung von Normen grundsätzlich freiwillig und kostenlos. Das unterscheidet sie auch von patentgeschützten Industriestandards. Erst wenn eine Norm zum Inhalt von Verträgen wird oder wenn der Gesetzgeber ihre Einhaltung zwingend vorschreibt, wird eine Norm bindend.

Normenarbeit

Die Inhalte der Normen erarbeiten diejenigen, die sie später anwenden. Bestehende Normen werden alle fünf Jahre aktualisiert. Für eine ausgewogene und am Markt akzeptierte Normung achtet das DIN darauf, dass alle Interessengruppen in den Gremien vertreten sind. Üblicherweise treffen sich dort Hersteller von Endprodukten und Messgeräten mit Verbänden, Berufsgenossenschaften, Wissenschaftlern aus Universitäten und Forschungseinrichtungen und Vertretern der Verbraucherseite.

Die Gremienmitglieder finanzieren ihre Teilnahme selbst, die Unternehmen müssen zudem einen Basisbeitrag für ihre Mitarbeit im Normungsausschuss zahlen. Hochschulen und öffentliche Forschungseinrichtungen sowie nichtgewerbliche Endverbraucher sind von dieser Beitragspflicht befreit. Ab 2025 will das DIN seine Finanzierung neu aufstellen und mit „FIN25“ eine zweite Säule einziehen, die von Unternehmen zusätzlich einen themenbezogenen Obolus für die europäische sowie internationale Sekretariatsführung und weitere Dienstleistungen verlangt.

Für große Unternehmen ist es hochinteressant, Normen selbst mitzugestalten. Zum einen können sie so Einfluss darauf nehmen, was sie bei der Produktentwicklung beachten müssen. Sie erfahren sehr frühzeitig, welche Regelungen anstehen und sie können sich mit anderen Experten austauschen. Im Gegenzug müssen sie sich finanziell an der gemeinnützigen Normung beteiligen. Weil die Mitarbeit allen Unternehmen offensteht, lassen sich einseitige Einflussnahmen zwar nicht ausschließen – in internationalen Sitzungen wird es bei derartigen Versuchen schon mal turbulent – , aber doch in Grenzen halten.

Handwerksbetriebe haben über die Mitgliedschaft in einer Innung freien Zugriff auf bestehende Normen. Der jährliche Innungsbeitrag hängt von der Anzahl und Ausbildung der Mitarbeiter ab: Auszubildende sind frei, Meister kosten mehr als Gesellen. Bei zehn Leuten liegt der Jahresbeitrag bei rund 600 Euro.

Für die meisten Privatanwender sind die Normenwerke des Beuth-Verlags meist zu teuer. Sie könnten sich stattdessen zu einer (Uni-)Bibliothek begeben, die die jeweiligen Normenwerke bereithält. Oder sie prüfen auf der Seite des Beuth-Verlags, ob das gesuchte Elaborat im Rahmen der Aktion „Blick in die Norm“ einsehbar ist. Registrierte Benutzer zahlen für einen zwanzigminütigen Online-Einblick 12 Euro. Nach Ablauf der zwanzig Minuten kann man jederzeit ein neues Zeitkontingent kaufen. (uk@ct.de)

Weil sich das DIN zum Großteil über den Beuth-Verlag finanzieren muss, werden die Normen dort teuer angeboten. Über „Blick in die Norm“ kann man für einen begrenzten Zeitraum preiswerter in eine Norm schauen., Screenshot: beuth.de
Weil sich das DIN zum Großteil über den Beuth-Verlag finanzieren muss, werden die Normen dort teuer angeboten. Über „Blick in die Norm“ kann man für einen begrenzten Zeitraum preiswerter in eine Norm schauen.
Screenshot: beuth.de
Über „Blick in die Norm“ kann man für einen begrenzten Zeitraum eine Norm einsehen., Screenshot: beuth.de
Über „Blick in die Norm“ kann man für einen begrenzten Zeitraum eine Norm einsehen.
Screenshot: beuth.de

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